Johannes Groht berichtet 1994 von der Osterinsel

 
Jeden Abend verlasse ich meine kleine Pension nach dem reichhaltigen Dinner und gehe noch einmal die Straße hinunter zur caleta, dem Hafen mit den Fischerbooten, um den Sonnenuntergang zu sehen. Vorbei an der Schule, aus der Weihnachtslieder klingen. Stille Nacht, heilige Nacht, unter Palmen, das Klavier ist verstimmt.
Ich habe ein Plätzchen gefunden, das ich bisher mit niemandem geteilt habe, wo ich ungestört lesen und auf das Meer blicken kann. Es macht die Wüste schön, sagte der kleine Prinz, dass sie irgendwo einen Brunnen birgt (Saint-Exupery).

Diese Insel ist so eine Art Oase. Hier kann ich aufatmen und mich neu orientieren. Die Karawane der eiligen Touristen kommt und geht wie ein Sandsturm, sie sehen, was sie sehen wollen, und werden weitergetrieben. Unablässig bläst der Wind über das karge, reiche Land. Wenn ich über die Hügel streife und längst vergessene Felszeichnungen finde, wenn ich mit dem Motorrad über die staubigen Pisten heize oder durch schlammige Löcher in dunkle Höhlen krieche, dann erscheint mir diese Welt üppig und lehrreich. Steine und Pflanzen sprechen zu mir, alles vibriert vor Lebensenergie, die sich Bahn brechen und Form annehmen will.

Die Lava bildet Strukturen, aus denen die Ornamente der Petroglyphen und die Bilder von Vögeln und Fischen ganz natürlich herauszuwachsen scheinen. Manchmal hat sie sich zu hohen Mauern aufgetürmt, die den feingefügten Quadern des Ahu Vinapu in nichts nachstehen. Die Grenzen von Natur und Kultur verfließen. Ob die Moai von einer Flutwelle oder einer Welle der Gewalt umgestürzt wurden, kann man ihnen nicht mehr ansehen. Und wenn man durchs Gebüsch bricht und die verdörrten Schoten der Sträucher rasseln hört, wird einem plötzlich klar, wie einmal ein Mensch die Rassel erfunden hat.
 

Alles, was wir tun, scheint längst in der Natur angelegt zu sein, es wächst einfach aus ihr hervor. Was sind Erfindungen anderes als Entdeckungen? Eine Frau ruft mir etwas zu und winkt mich zu sich, und so lerne ich Nua kennen. Sie wurde als achtes Kind einer polynesischen Familie geboren, und ist hier aufgewachsen. Sie ist klein und energisch,und arbeitet als guardaparque in Orongo oder am Rano Raraku, wo sie die Touristen von den Petroglyphen verscheucht und die Moai bewacht. So hält sie den Kontakt zur Außenwelt und lernt viele neue Menschen kennen.

Sie wohnt in einer kleinen Hütte auf dem Grundstück ihrer Eltern, in der es nicht viel mehr gibt als ein Bett und einen Koffer, in dem sie ihre Kleidung verwahrt. Im Schein ihrer einzigen Kerze huschen abends Kakerlaken über die Bretterwände, feucht und kalt zieht es durch die Ritzen. Strahlend zeigt sie mir eine Kokosnuß, die ihr heute morgen direkt vor die Füße gefallen ist. Ihre Schwestern sind mit Ausländern verheiratet und haben die Insel verlassen. Mit ihren Brüdern gehe ich angeln in der Brandung. Geschickt bewegen sie sich in ihren zerfledderten Turnschuhen über die scharfen Kanten der Lava und weichen der Gischt aus, die meterhoch über uns hinwegspritzt. Sie haben Angelschnur auf Blechdosen gewickelt, und ködern die knallbunten Fische mit Brötchen. Klatschnass stehe ich da, stolpere über meine neuen Wanderstiefel und spüre nur noch den Wunsch, auch so einen großen, gelben Fisch zu überlisten, ihn an Land zu ziehen, durch einen Biß ins Genick zu töten und zu verspeisen.

Am Abend sitze ich mit Nuas Vater unter der Palme. Wir hören die Südseeklänge von Radio Tahiti und trinken Pisco, während er einen Thunfischkopf auf dem offenen Feuer kocht. Ich esse das weiße Fleisch, er lutscht die Augen aus. Er hat den ganzen Tag im Straßenbau geschuftet. Nach und nach werden die Straßen Hanga Roas gepflastert, trotzdem ist immer noch alles voller rotem Staub. Hanga Roa ist laut. 3500 Menschen leben hier, ein Drittel von ihnen echte Polynesier, der Rest Chilenen, Franzosen, Deutsche und viele andere, und kaum jemand hat einen Auspuff an seinem Moped.

Die Hähne krähen die ganze Nacht, und nach den lästigen kläffenden Kötern wirft man am besten mit kleinen Kieseln. Die meisten Häuser sind aus Eternit, Holz und Wellblech und dementsprechend hellhörig. Aber fast alle haben inzwischen Strom und fließend Wasser. Es gibt eine Bank, eine Post, ein Rathaus und ein Hospital. Viele Geschäfte verkaufen Souvenirs, und in einigen bekommt man auch Lebensmittel, die es nicht auf dem kleinen Markt gibt. Obst, Konserven, Süßigkeiten – das Flugzeug bringt zweimal die Woche alles, was das Herz begehrt.

Zwei Mal im Jahr kommt ein Versorgungsschiff, das die kleinen Suzuki-Jeeps und Honda-Geländemaschinen liefert, auf denen dann ganze Familien zum Einkaufen in den Ort fahren können. Die Kinder spielen mit toten Vögeln, manchmal huscht eine Ratte über die Mauer. Viele Menschen sind arm. Aber sie kennen es nicht anders und kommen mit wenig aus.

 

Viele Alltagsgegenstände wie Hüte, Schuhe oder Messer sind teuer und schwer zu beschaffen. Die meisten leben wohl auf die eine oder andere Art vom Tourismus, vermieten Zimmer und Autos, schnitzen kleine Moai als Souvenir oder arbeiten als Fremdenführer. Viele bekamen kurzfristig einen Job, als Kevin Costner hier seinen Film Rapa Nui drehte. Aber niemand mag den Film, in dem neuseeländische Maori die Hauptrollen spielten. Wieder einmal waren die Osterinsulaner nur Statisten. Und so sitzen die tätowierten jungen Männer abends nach wie vor bekifft vor den Läden und hören alte Discomusik aus staubigen Ghettoblastern. This is the rhythm of the night.

Bei Nacht ertrinkt die Insel im Meer funkelnder Sterne. Geronimo spielt Rapa-Nui-Lieder auf der Gitarre, Nua liegt in meinen Armen, die Satelliten ziehen majestätisch ihre Bahn. Wie ein altes polynesisches Schiff gleitet der Mond über die spiegelnde Oberfläche des Stillen Ozeans. Ich habe nicht genug Wünsche für all die Sternschnuppen. Ein gewaltiger Moai steht schwarz und schweigend in unserem Rücken. Auf den Hügeln brennen Feuer, ferne, finstere, faszinierende Ahnungen beschwörend. "Woher kommen wir? Was sind wir? Wohin gehen wir?" (Gauguin) Die Moai kamen aus den Tiefen der Erde. Aus der erkalteten Glut des Rano Raraku wurden sie geschlagen und erhielten ihre menschliche Gestalt. Man richtete sie auf, und dort standen sie nun und wandten sich mal dem Kratersee, mal dem fernen Meer zu.

Viele machten sich auf den Weg, den camino de los moai, und manche blieben dabei auf der Strecke. Gefallen, gestürzt und zerbrochen liegen sie da, die Gesichter in den harten Boden gebohrt. Der Weg war schwierig, und oft mussten sie wieder aufgerichtet werden, bevor sie ihr Ziel an der Küste erreichten. Hier lernten sie endlich sehen, man meißelte tiefe Augenhöhlen in ihre steinernen Schädel und setzte ihnen die funkelnden Augen aus weißen Korallen und roter Lava ein. Sie wurden geschmückt und verziert, sie bekamen große rote Haarknoten, und die Menschen verehrten sie und tanzten vor ihnen.

Zum Schlafen kriechen wir in eine Höhle, deren Eingang an eine Vulva erinnert. Fruchtbarkeitssymbole hatten früher eine große Bedeutung für die Inselkultur. Viele Kunstgegenstände wurden mit Vulven verziert; unter dem Druck der Kirche verlegte man sich aber später mehr auf die Marienverehrung. An vielen Orten sind Madonnen in dunkelroten, kleine Höhlen bildenden Schreinen aufgestellt worden, vor denen man häufig Einheimische sitzen sieht. Manche Schreine sind oben mit einem Kreuz aus Knochen verziert. Man hat sich arrangiert.

Sonntags wird die Kirche gut besucht, alle machen sich fein, singen aus vollen Kehlen und geben sich zum Abschluss die Hände. Die lateinische Liturgie wird getragen von Liedern in Rapa Nui, die Christusfigur ist übersät mit Vogelmännern – und ist nicht die Oblate beim Abendmahl auch so eine Reminiszenz an kannibalistische Gelüste? Wie dem auch sei, heute hilft die Kirche den Menschen, ihre Identität wiederzufinden. Nicht umsonst stehen die Protestplakate gegen die Landverteilung direkt auf dem Kirchhof zwischen Kruzifix und Madonna. Als Vorlage für die meisten modernen Schnitzarbeiten dient – Ironie der Geschichte – ein Katalog mit Fotos all der geraubten und gekauften Kunstwerke, die 1989 in Frankfurt in einer umfassenden Ausstellung zur Kultur der Osterinsel gezeigt wurden.

 

Benedicto Tuki Tepano ist einer der besten Schnitzer der Insel, und Arbeiten von ihm stehen in der Kirche und sind auch sonst sehr begehrt. Er freut sich, dass ich ihn fotografieren möchte, und erzählt mir lange von seinem eigentlichen Beruf als Fischer, von den Nächten auf See, von kleinen Tricks und großen Fischen, die er am liebsten roh isst, weil er zum Kochen keine Lust hat.

Ich kaufe ihm einen Moai Kavakava ab, eine klassische Figur, die Dämonen vertreiben soll – und würde damit gerne auch etwas von seiner klaren, menschlichen Kraft und Zähigkeit erwerben, mit der er hier sein einfaches Leben führt. Die Sonne ist untergegangen, ohne viel Aufhebens davon zu machen. Ich streife in der Finsternis durch das Dorf. Irgendwann stehe ich auf dem Rollfeld des Flughafens, und plötzlich gehen all die bunten Lichter an. Es ist absurd schön, wie UFOs, ein Regenbogen und der Stern von Bethlehem auf einmal. Ich stehe inmitten dieser Flut aus farbigem Licht und entdecke das Flugzeug. Durch den nassen Nebel fliegt es direkt auf mich zu, sein Bugscheinwerfer spiegelt sich im Meer. Ich trete ein Stück zur Seite, und es landet neben mir, erstaunlich leise, wie ein rätselhafter Bote aus einer anderen Welt.

Niemand wandelt ungestraft unter Palmen, hat Goethe einmal gesagt. Heimweh ist der Preis, den ich zahlen muss für diese Reise. So kaputt hier vieles ist, so schön ist es auch. Die Osterinsel ist wie ein großes Freilichtmuseum zum Studium von Natur und Kultur, von Traum und Wirklichkeit, von Depression und Schönheit. Mit jeder Speerspitze sammle ich etwas auf von der Einheit dieser Gegensätze. Nua sagt, dass sie sich bald ein richtiges Haus bauen will. Und doch steht sie oft auf dem Hügel neben dem Friedhof und sieht den Flugzeugen zu; manchmal geht sie auch zum Flughafen, voller Neugier, wer da wohl vom Himmel gefallen ist. Vielleicht kommt ja eines Tages jemand, der sie mitnimmt auf eine Reise zum anderen Ende der Welt.

"Planet Osterinsel - Bilder einer Reise ans andere Ende der Welt". Edition Octopus, Münster, 2005.
Quelle: © 1994 Johannes Groht,
http://www.ur-bild.de

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